Joerg Bader

RUNDSCHAUEN


Rede von Joerg Bader anlässlich der Vernissage vom 28. August 1999 zur Ausstellung von Eva Bertschinger und Lisa Enderli in der alten Fabrik in Rapperswil.

Was soll und kann die Kunst? Was macht sie in ihrer anscheinenden Überflüssigkeit für unsere westlichen, hochspezialisierten Gesellschaften unentbehrlich? Sie kann und soll neue soziale Räume erkämpfen. Dafür ist die alte Fabrik ein gutes Beispiel. Sie kann und soll über Rezeptionsorgane die uns allen eigen sind – wie Augen, Ohren, Geruch- und Tastsinn neue geistige Räume erarbeiten – im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung, deren neue geistigen Räume nur noch von wenigen Spezialisten mitvollzogen werden können. Dies führen uns Eva Bertschinger und Lisa Enderli mit ihren hier ausgestellten Arbeiten bestens vor.

Und schon drängt sich die Frage auf, was denn in der Kunst ein geistiger Raum sein kann. Ein geistiger Raum ist z.B. jenes Assoziationsfeld, bestehend aus Wörtern und Formen, die die hier ausgestellten Werke in uns auslösen. Ein erstes und fallenreich angelegtes Assoziationsfeld ist die Einladungskarte zur Ausstellung. Das Einladungsbild zeigt links eine Gitterstruktur mit einem Haarwuschel an seinem Ende und zum Teil darunter unnatürliche Falter auf hellem Grund. Sie sind so zusammengestellt, dass sich ihre Einheit unseren Augen einprägt. Mag dieses Einladungs-Photo trügerisch eine bildnerische Einheit behaupten, obwohl sich hier zwei verschiedene künstlerische Weltsichten vorstellen, so hält die Ausstellung doch was das Bild verspricht: eine erstaunliche Wahlverwandtschaft der beiden Künstlerinnen-Welten. Auch der Titel nimmt sich trügerisch aus, denn obwohl hier Rundschauen – in einem skulpturalen Sinn verstanden – angekündigt und zu entdecken sind, erlauben gewisse dieser Objekte – mögen sie eingerollt sein wie die gittrigen Streckmetalle von Eva Bertschinger oder ausgerollt wie eine Foto-Papierrolle von Lisa Enderli – auch Durchblicke. Die Verneinung und Bejahung der Dreidimensionalität findet sich mehr oder weniger bei beiden Künstlerinnen.

Gemeinsam ist Eva Bertschinger und Lisa Enderli zuerst eine ethische Haltung. Kunst produzieren ist für beide zu allererst ein Experimentieren mit Materialien und Ideen – oder umgekehrt. Wir würden auf Schweizerdeutsch, vielleicht sogar etwas abschätzig, von ´Umepröbeläª sprechen. ´Umepröbeläª jedenfalls ist ein Zustand des Seins, vor dem sich mancher Schweizer Bürger fürchtet, obwohl heute viele und gerne von ´Emotionaler Intelligenzª sprechen. Ganz im Gegensatz zu den beiden Künstlerinnen. Sie lassen sich gleiten von einer Stimmung, von einer Idee, vom Material, bis zu Eva Bertschinger, die das Material gleiten, ja fliessen lässt, ganz wie es sich seinen Lauf sucht, so z.B. in der Wandarbeit ´Fliess Stückeª, bestehend aus ca. 30 Objekten aus Mörtel und Pigmenten. Bildlich erinnern sie mich z.B. an Zähne von Riesenurtieren in einem paläanthropologischen Museum. Und so frage ich mich, ihre weichen Formen betrachtend, was künftige Vergangenheitsforscher in 500 Jahren sich wohl für einen Reim machen, wenn sie diese Objekte ausserhalb eines Kunstkontextes vorfinden werden. Was gibt mehr über eine Gesellschaft Auskunft? Das Standesamtsarchiv oder eine Sammlung bizarrer Formen, entsprungen der Vorstellungskraft einer Künstlerin?

Ganz anders geht Lisa Enderli mit der Idee des Archivs um, obwohl auch sie sich in ihrer Arbeit von Stimmung und direkter persönlicher Umgebung leiten lässt. Nicht den Aufbau eines Formenarchivs unternimmt Lisa Enderli, sondern viel mehr die Zerstörung und Wiederkomposition des Fotobildes – nebst dem Wort wohl unser wertvollstes Archivobjekt. In Streifchen gerissen, vielfach so, dass nur noch Oberflächenstrukturen erkennbar bleiben, mit Verzicht auf Darstellung von Objekten und Personen, komponiert sie nicht neue Bilder, sondern, und darauf besteht sie vehement, neue Objekte. Diese Papierrollen die Lisa Enderli wie Wände von Nomadenzelten installiert, finden ihre Initialzündung in einer jahrzehntealten Auseinandersetzung mit dem Medium Zeichnung. Seit Lisa Enderlis letzter Ausstellung in Zürich, versucht sie das Unmögliche: Die Zweidimensionalität des Papiers in einem skulpturalen Licht zu zeigen. Ich spreche bewusst von Licht, weil nebst dem malerischen Eingriff – vielfach mit Tinte – das einfallende Licht den dreidimensionalen Aspekt der Papierarbeiten unterstreicht. Reiner Ruthenbeck, ein wichtiger Künstler der Prozess-Kunst, zeigte uns mit zerknautschten und angehäuften Papierknäueln die dritte Dimension des Papiers. Wäre Ruthenbecks Geste das Ei des Kolumbus, so müssten wir, im Falle von Lisa Enderli, vom Straussenei des Kolumbus sprechen. Dieses Einschneiden und Aufklappen der Papierschichten brachte Lisa Enderli zu den Papierwänden die hier hängen und bis hin zum Papierausläufer am Boden mit seinen ´Himmels-ª und ´Meeresfransenª. Das Unmögliche möglich machen gehört eben auch zum Spiel der Kunst. Mit ihrem Aufritzen und unter die Papieroberfläche eindringen, sprechen wir einen Aspekt im Werke Lisa Enderlis an, den wir mehr oder weniger durch alle Schaffensjahre wiederfinden: die Auseinandersetzung mit Oberflächenaspekten, seien es die Schmirgelpapier- oder Stempelzeichnungen, seien es die Strumpfhosenbilder oder jetzt die Schnittzeichnungen. Immer wieder thematisierte Lisa Enderli zuzudeckende und zugedeckte Flächen. Jetzt ist sie unter die Papierhaut gefahren und vielleicht gerade deshalb erstummt jetzt ihr Werk, das wir zuvor voll von verbalem und bildnerischem Humor kannten. Aber es ist nicht nur diese Stille, die sie heute in bezug zu Eva Bertschingers Arbeiten setzt.

Erwähnte ich Eingangs, dass beide Künstlerinnen sich heute vornehmlich vom Prozessualen leiten lassen, so lässt sich bei genauerem Hinsehen bei beiden eine Konstante ausmachen. So wie Lisa Enderli ihr Augenmerk immer wieder auf die Oberfläche richtete, so lässt sich bei Eva Bertschinger in den letzten 10 Jahren – trotz der verschiedenen Ausdrucksformen – eine Vorliebe für die gewundene, häufig endlose Linie feststellen. Endlosschlaufen sind ja heute das A und O der Videokunst – Eva Bertschinger führt sie uns räumlich und flächig vor. Die geometrischen Aquarellarabesken finden ihre Entsprechung in den dreidimensionalen Drahtzeichnungen, von Klebeband überzogen, die die Künstlerin Bienentänze nennt. Diese spannungsgeladenen Linien finden wir auch in den Spiralen wieder, sei es in den Quadrillen aus Gips die uns einen Durchblick durch die Fabrikmauer glauben lassen oder in den aufgerollten unregelmässig zugeschnittenen Drahtgeflechtrollen aus Streckmetall mit ihren blonden Antennen aus Rosshaar. ´Learning from Angelsª nennt sie die Künstlerin. Ihrer Transparenz, ihrer halben Gegenwärtigkeit und halben Absenz wegen. ´Un ange qui passeª ist jener Moment – im französischen Sprachgebrauch – wenn in einer Runde wie hier und jetzt während einiger Sekunden kein Laut und kein Wort zu vernehmen ist. Diese Engelsstille bringen die hier vereinigten Kunstwerke hervor. Auf dass wir genauer sehen, hören und spüren.

 

Joerg Bader, Zürich, August 1999