Martin Kraft

Martin Kraft, Papercuts, Gallery Neuenschwander Gockhausen

Die Arbeiten, die Lisa Enderli hier zeigt, könnte man auf den esten Blick
fast für Zeichnungen halten; sie sind es auch in einem gewissen Sinne – und
dann doch wieder nicht. Das Zeichnen ist jedenfalls das ursprüngliche Medium
der Künstlerin. Es verbindet sich bei ihr mit der ausgeprägten Liebe zum
Papier, das nicht einfach nur Hilfsmittel zum Zeichnen ist, sondern sich
künstlerisch auch ganz anders einsetzen lässt. Dazu kommt bei ihr als
Entscheidendes die Neugier, an sich vertraute Mittel und Medien auf neue,
unerwartete Art einzusetzen und damit zu ganz eigenen bildnerischen Lösungen
zu gelangen. Als sie sich die Frage stellte, ob und wie man die Zeichnung in
die dritte Dimension erheben könne – und zwar tatsächlich und nicht bloss
mit augentäuschenden Tricks -, fand sie darauf eine einfache Antwort. Sie
vertauschte den Zeichenstift mit dem Messer, begann gewissermassen mit
anderen Mitteln zu zeichnen.

Das tönt vielleicht einfacher, als es ist. Man nehme also ein Messer – ein
kräftiger Schnitt, und das Papier ist ruiniert. Oder man nehme, um dies zu
vermeiden, einen dicken Karton und bekommt beim Schneiden vielleicht ein
Relief, das aber nichts mehr mit Zeichnung zu tun hat. Die Spannung dieser
Blätter liegt nicht zuletzt darin, dass sie immer neu den entscheidenden
Punkt dazwischen erkunden, wo Feinheit und Stärke des Papiers im richtigen
Verhältnis zueinander stehen. Dabei könnte man es sich grundsätzlich einfach
machen und sich schlicht auf das einmal gefundene Idealpapier beschränken.
Aber ein solches gibt es gar nicht. Und Lisa Enderli ist entsprechend immer
auf der Suche – einer Suche, die natürlich kein Selbstzweck ist. Denn jedes
Papier hat ja wieder eine andere Atmosphäre, eine andere Ausstrahlung; aber
es lässt sich auch nie genau berechnen, was man mit ihm anfangen kann, wie
viel es aushält. Es ist also immer ein gewisses Risiko mit dabei, ein Moment
der Überraschung, denn das Ergebnis lässt sich nur bedingt kalkulieren.

Wenn man versucht, die Arbeit Lisa Enderlis rein technisch zu beschreiben,
so mag dies ziemlich einfach tönen – angesichts der unglaublichen Vielfalt
und Verschiedenheit der Ergebnisse. Sie schneidet das Papier ein, klappt das
Eingeschnittene hoch, schneidet es teils nochmals ein. Manchmal trägt sie,
eher sparsam, auch Farbe auf – und zwar immer  Tuschen oder Tinten, wie man
sie ebenfalls zum Zeichnen braucht. Der Gegensatz einer so entstandenen
dreidimensionalen Zeichnung zu einer herkömmlichen ist frappant. Was vor
allem auffällt, ist ihre Wandelbarkeit: im Wechsel des Lichtes, mit der
Veränderung von Distanz und Blickwinkel der Betrachtenden. Denn dank den
aufgeklappten Partien bilden sich Schatten, und auch das reine Weiss kann
plötzlich farbig wirken; und die farbigen Partien können voll in Erscheinung
treten oder fast verschwinden.

Die Frage des Standpunktes der Betrachtenden ist hier in einem doppelten
Sinne wichtig. Es wird ja heute in der Auseinandersetzung mit Kunst immer
wieder zu Recht gefordert, dass man ihr nicht in unüberwindbarer Distanz
begegnet (etwa so wie der hinter Panzerglas verwahrten Gioconda), sondern
möglichst nahe an sie herangeht. Dem sind immerhin gerade in diesem Falle
Grenzen gesetzt, denn: Berühren soll man diese Arbeiten nicht, so sehr ihre
haptische Wirkung dazu verführen mag. Aber man muss sich zunächst bewegen
vor ihnen, um sie so in ihrer Wandelbarkeit zu erkennen. Und einen
Standpunkt beziehen soll man auch im übertragenen Sinne. Es ist durchaus im
Sinne der Künstlerin, die ja mit diesen Arbeiten an sich nichts „abbildet“
und gerade deshalb um so vielfältigere Assoziationen erweckt, dass man ihnen
gegenüber eben seine eigenen Empfindungen zu formulieren versucht – und die
können erfahrungsgemäss höchst unterschiedlich ausfallen. Gerade dadurch
gewinnt das Kunstwerk Eigenleben, in dieser Interaktion zwischen derjenigen,
die es geschaffen hat, und denen, die es betrachten. Und die gelegentlich
von etwas hilflosen Kunstfreunden gestellten bekannten Fragen werden hier
gegenstandslos: „Ja, was ist jetzt das, was bedeutet das?“ Es ist letztlich
immer das, was ich sehe.

Und das kann eben sehr vieles sein: Eine weisse Fläche kann ein
Meditationsraum sein, aber auch an eine Winterlandschaft erinnern; und das
macht bewusst, dass die verschiedenen Arbeiten – je nach der Struktur des
Papiers beziehungsweise der Eingriffe in dieses – gleichsam verschiedene
„Temperaturen“ haben können. Auch kleinere Bildausschnitte mögen wie
Landschaftsansichten aus der Vogelschau wirken – vielleicht noch deutlicher
in den Détailfotografien im Buch als in den Originalen selber. Weisse
Flächen, die von gezielt eingesetzten kleineren Bildelementen kontrastiert
werden, lassen unwillkürlich an fernöstliche Tuschmalereien denken; und weil
diese Elemente oft wie Zeichen erscheinen, liegt die Verbindung zur
Kalligrafie nahe. Die organische Wirkung des Papiers verstärkt den Eindruck
von vegetativen Formen: Blätter, Grashalme, Äste. Naturhaftes kann sich
einstellen, wenn die stille Poesie dieser Arbeiten dynamischer Bewegung
weicht, durch die entsprechende Aneinanderreihung vieler gleichförmiger
Elemente: Strömungen im Wasser, Vogelzüge, die sich mit zunehmender
Entfernung von den Betrachtenden doch wieder in ruhiger Monochromie
auflösen.

Und nun habe ich doch schon fast zu viel „erklärt“, was in diesen Arbeiten
alles enthalten sein kann – angesichts der Feststellung, dass es ganz bei
Ihnen liegt, was sie darin sehen. Das mag also ziemlich inkonsequent und
widersprüchlich erscheinen, aber vermutlich hat gute Kunst selber immer
etwas Widersprüchliches in sich. Und es ist sicher gerechtfertigt, wenn es
Sie dazu angeregt hat, sich die Arbeiten von Lisa Enderli  nochmals genauer
zu besehen.

Martin Kraft