Sabine Arlitt: Neue Kleider für neue Räume des Daseins
Lisa Enderli malt mit dem Messer, schneidend bringt sie Bilder hervor. Sie dringt unter die Oberfläche und gibt verschlossen gehaltenen Qualitäten Raum. Sie macht die Raumhaltigkeit des zweidimensional Wahrgenommenen sinnlich fassbar. Das flache Papier erhebt sich – erregt – zum Relief. Eine Vielfalt an Assoziationen stellt sich ein. Man denkt an das sanfte Kräuseln sachte bewegter Wasserwellen, vielleicht an Luftwirbel, an spriessende Pflanzen auf einem Acker oder an einen Vogelschwarm. Vielleicht an das Gefieder eines Schwans, an Birkenrinde, an Sandverwehungen, an Wirbel und Strömungsfelder. Doch Lisa Enderli stellt nichts dar, sie imitiert nicht, sondern sie deckt das dem Papier, dem blossen Material, innewohnende Potenzial auf. Verwirklichung geschieht parallel zur Natur, wobei Verwirklichung als reine Möglichkeit des Wirklichen in Erscheinung tritt. Mit jedem Standortwechsel des Betrachters verändert sich das Erscheinungsbild. Was wie eine Landschaft anmutet, entpuppt sich als sinnlich erfahrbares Anschauungsfeld philosophischer Gedanken. Je nach Sichtweise könnte alles immer auch anders sein.
Das Eindringen in die Schichten des Papiers geht einher mit der Eroberung eines Raums der Entfaltung. Das einzelne Blatt Papier findet zu einer dreidimensionalen Ausdehnung, es öffnet seine Haut auf seinen eigenen Körper hin – und auf den umgebenden Raum. Innen und aussen sind fliessend aufeinander bezogen. Ob man an Schuppen oder Federn denkt, an Brustwirbel oder Nervenbahnen, an Stacheln oder an eine Vagina, stets spielt eine sensorielle Hinwendung zur Welt eine tragende Rolle. Mit lustvoller Neugier streift das tastende Auge durch die ausgelegten Wahrnehmungsfelder. Auf seiner Erkundungsreise in labyrinthischen und kreisenden Bahnen begegnet es Spitzem und Rundem, Scharfem und Weichem, Keuschheit und Erotik.
Die fragile Körperlichkeit relativiert den Gedanken an einen klar begrenzten Gegenstand. Längst hat das Ausgangsmaterial der künstlerischen Tätigkeit, längst hat das Blatt Papier unter Lisa Enderlis Händen seine begrenzenden Ausmasse, festgehalten in Form von Länge und Breite, für eine Entgrenzung freigegeben. Mit jedem Windstoss verändert sich das wandelbare Präsentsein in Modulationen. Offenheit, Offensein für neue Sichtweisen, stellt ein Lebensmotto für Lisa Enderli dar. Schon früh hatte sie mit Performances weltoffen und kritisch zu Dingen, die das Leben schlechthin betreffen, Stellung bezogen. Sie will nicht ein für allemal sagen: So ist es!
Lisa Enderlis Papierarbeiten, die erst im Wechsel des Lichts ihre Reize voll ausspielen, könnten durchaus dazu verlocken, sie mit dem wunderbaren Zauber einer frisch verschneiten Schneelandschaft zu vergleichen. Der Schmelzprozess löst die Schneedecke auf. Grenzen verschieben sich, Grenzen lösen sich auf. Ein Verbergen und Offenbaren läuft ab, eingebunden in den übergeordneten Zyklus von Werden und Vergehen, von Ewigkeit und Vergänglichkeit. Verletzlich sind die fragilen Gewebe von Lisa Enderli, die immer wieder von neuem das Wagnis eingeht, neue Schnitte anzulegen, um neue Perspektiven zu eröffnen. Behutsam klappt sie einzelne Teilstücke auf, zuweilen akzentuiert sie mit Tusche einzelne Partien, etwa die Schnittkante beziehungsweise den Saum, einen Zipfel oder einen Ausläufer. Nur ganz selten geht Lisa Enderli durchschneidend vor, meist verharrt sie beim Einschneiden. Was sich ablöst, was sich loslöst, bleibt mit seinem Ursprung verbunden. Die Gewebestrukturen tragen auch textliche Qualitäten in sich. Doch nur ganz sachte, unterschwellig, sind potenzielle Berührungspunkte wahrnehmbar. Grenzgängerisch sind sie allerhöchstens auf dem Sprung in den Bereich der Bedeutungen, den Bereich der Semiotik. Einzig ein roter Tupfer kann als assoziativer Auslöser dienen.
Schon als Lisa Enderli 1986 das Atelier der Stadt Zürich in Genua nutzen durfte, hatte sie sich mit Hautstrukturen beschäftigt und diese damals im Zusammenspiel mit Architektur fotografiert und collageartig inszeniert. Sie experimentierte mit dem Letraset-Abreibeverfahren und mit Schleifpapier. Sie nutzte das Schmirgelpapier im Grunde gegen den Strich. Sie hat nicht etwas geglättet, sondern Partikel von Steinen, Hölzern und selbst Rosen auf dem Schmirgelpapier sich ablagern, sich einlagern, lassen. In einzelnen Textarbeiten hat sie «heimatlos aufgefundenen Situationen» vorübergehend Aufenthalt gewährt. Mit spitzem Bleistift entstanden präzise Zeichnungen, in denen sie mit feinsten Schattierungen den Eindruck von Dreidimensionalität erwecken wollte. Verdichtet, reduziert, konzentriert und dabei höchst real ist all ihr Suchen schliesslich in die Papierarbeiten eingeflossen.
Eingeflossen ist auch Zeit, viel Zeit. Wie ein Speicher wirken die Papierarbeiten, in denen der künstlerische Arbeitsprozess protokollartig fixiert ist. Sie präsentieren sich, wie es in einem Film über Lisa Enderli heisst, als «geronnene Zeit».
Zeit ist der Stoff, aus dem das Leben ist. Lisa Enderli veredelt das Papier zu einem tendenziell „feinstofflichen“ Gewebe. Sie steigert die Qualität des Papiers und sie steigert unsere Lebensqualität .
© Sabine Arlitt , Zürich 2007