Sabine Altorfer

Sabine Altorfer zu den neuesten Arbeiten von Lisa Enderli

Papier ist flach. Papier ist ein Blatt, ein Bogen, es dient als Grundfläche zum Zeichnen oder Malen, hat eine glatte oder rahe Oberfläuche; aber es ist auf jeden Fall in unserem Verständnis zweidimensional. – Nicht jedoch bei Lisa Enderli, nicht in ihrer Werkserie seit 1995. Dreidimensionale Papiere sind im Gegenteil das Markenzeichen dieser Arbeiten. Doch anders als gewohnt erzeugt die Künstlerin das Raumgreifende des Papiers nicht durch Falten oder Verbinden, sondern aus der Fläche heraus. Sie schneidet die Oberfläche der Papierbögen auf. Mit hauchdünnen Schnitten in die Papierhaut gewinnt sie Stück für Stück ein zweite Schicht, die sich aufwölbt, in kleinen regelmässigen Strukturen oder in grösseren gestischen Bewegungen. Diese Schuppen, Brauen und Gräte betont sie an den flachen Schnittstellen oder in den Faltungen durch farbige Fassungen. So entstehen auf und aus einem flachen Blatt lebendige, fragile Reliefs, ein rhythmisch bewegtes Feld für unsere Augen. Dass diese zarte Schönheit durch Aufsplitterung der Papierhaut, durch eigentliche Verletzungen entsteht, ist nur einer der spannenden, diese Werke prägenden Gegensätze.
Wie gerne würde man auch mit den Fingern über dieses gleichzeitig weiche und spröde Kunstwerk streichen, doch die Angst, die wunderbare Zartheit dieser Gebilde mit der taktilen Erfassung gleichzeitig zu zerstören, hindert uns ohne Verbote daran. So bleibt die Entdeckungsreise mit den Augen. Und schnell merken wir, dass die eine Sicht nie das Ganze zeigt. Weil die Schnitte meist parallel oder zumindest aus der gleichen Richtung angebracht sind, ändern die Blätter ihre Erscheinung je nach Sicht- und Lichtperspektive. Einmal gleitet unser Blick über die geschlossenen, weichen Kanten, von der andern Seite bestimmt die schnelle Folge der harten, dichtgedrängten Kanten das Bild und vom dritten Blickpunkt aus ist es die Bewegung der Schuppen und Brauen aus dem Papier heraus, die Unter- und Aufsicht im Wechsel, die faszinieren. Die durchlässige, mehrschichtige Struktur erzeugt zudem ein wechselvolles, fantasievolles Spiel von Licht und Schatten. Das bereichert die Papierfarbe um zahlreiche sanfte Zwischentöne und nuancierte Klänge, zu denen der sparsame, aber effektvolle Farbauftrag pointiert die Solostimme übernimmt.
Soll man diese Arbeiten Enderlis nun aber den Wahrnehmungs- und Material-Recherchen, den Natur-Assoziationen oder schlicht der abstrakten Kunst zurechnen? Die doch überraschende Eigen-Entwicklung dieser Papierschnitt-Arbeiten zeugt von der Experimentierlust der Künstlerin mit dem Material Papier. Es war Lisa Enderli schon immer wichtiges Arbeitsmittel seit ihren frühesten Zeichnungen oder später bei ihren Fotocollagen. Für ihre Papierreliefs benutzt sie nicht etwa extra dicke Papiere, sondern bei den kleinern Arbeiten Zeichnungsbögen und in den grössern Formaten (die bis sechs Meter Länge erreichen können) Aquarellpapiere. Auch das Farbmaterial stammt aus dem Medium Zeichnung: es sind Tinten und Tuschen.
Die Folge von Rhythmen, das Spiel von Ganzem und Einzelteil verwendet die Künstlerin prägnant in ihren (grossflächigen) Fotoarbeiten, eigentlichen Fotocollagen. In diesen zerteilten Bildern der Wirklichkeit, die sie zu neuen Reihen und Erscheinungen fügt, sind regelmässige Abläufe und Gliederung wichtige Gestaltungsmittel. Auch das spielerische, ja verspielte Element finden wir in früheren Werken Enderlis, am stärksten in ihren Pinselblumen, den fantasievollen Assemblagen.
Doch Papier als selbständiger, sich selbst genügender Werkstoff für Reliefs, die Entdeckung von der Teilbarkeit und Auflösbarkeit der Oberfläche zur Dreidimensionalität und ihrer wechselvollen Erscheinung ist ein Fund. Diese Arbeitsweise macht die umfangreiche Serie zu einem unverwechselbaren Werk. Man könnte diese Arbeiten aber auch einfach als abstrakte Werke lesen. Das Spiel aus Form und Farbe, die Dualität von lebendiger Handschriftlichkeit und strenger serieller Reihung, die Reduktion auf eine einzige Farbe zur Betonung von Strukturen oder Auflösung der Oberfläche, lassen die Bezeichnung „abstrakt“ als zutreffend erscheinen. Aber es sind auch Untersuchungen über unsere Wahrnehmung, differenzierte Ausgestaltung des immergleichen Themas zu unterschiedlichsten Erscheinungen. Überblickt man die ganze Serie der kleineren Blätter kann man sie tatsächlich als unvollendetes Alphabet, als Versuchsreihe dieser Arbeitstechnik und ihrer Möglichkeiten lesen. Doch neben den intimen kleinen Bögen, die man gerne auch als Serie betrachtet, gibt es faszinierende Riesenbögen, die zu einem grossen Feld von Bewegung werden. Allen gemeinsam ist der Assoziationsreichtum, sie mahnen an eine von kräuselnden Wellen bewegte Seeoberfläche, wecken Erinnerungen an Pflanzen und Blätter, die vom Wind unserem Blick aufgedeckt werden, an rissige Verkrustungen verdorrter Oberflächen oder an Zeichnungen die der Wind scharf in Schneeoberflächen gezeichnet hat. Vielfältige Bilder tauchen auf, doch die Künstlerin tippt nur an, vermeidet geschickt zu grosse Nähe durch knappe Farbigkeit, und vor allem durch Formen, die sie nicht aus der Anschauung, sondern aus dem Material und aus ihren gestalterischen Fähigkeiten schöpft.

Sabine Altorfer