Yves Schumacher

Galerie Niedervolta, Altdorf
Lisa Enderli „Messerschnitte“
4. September bis 10. Oktober 1010

Eröffnungsrede von Yves Schumacher anlässlich der Vernissage vom 3. September 2010

 

Messerschnitte

Meine Damen, meine Herren

Jemand hat mal behauptet, Papier sei geduldig. Das Gegenteil ist der Fall! Seit ich Lisa Enderli beim Arbeiten zugeschaut habe, weiss ich, dass Papier empfindsam, widerspenstig und unberechenbar ist. Je nach Fasernart und Feuchtigkeit knüllt und knittert es, wirft es sich auf oder rollt sich zusammen. Die Beherrschung des Werkstoffs Papier durch die Künstlerin ist ein Thema für sich. Wenden wir uns lieber der Frage zu, wie Lisa Enderli das Papier mit dem Messer zum Sprechen bringt.

Die Ausstellung „Messerschnitte“ ist eine Annäherung an den feinfühligen Umgang der Künstlerin mit Papier und Licht. Indem sie das Licht gewissermassen als Substanz einfängt und in ihren Papierschnitten zum Spielen bringt, spürt sie die Grenzen von Hell und Dunkel auf. Sie visualisiert das Licht, indem sie dem Papierbogen eine neue, eigenwillige Oberflächenstruktur verleiht. Dabei bringt sie die geringsten Veränderungen des Lichteinfalls und der Lichtstärke im Laufe eines Tages zum Ausdruck.

Kunsthistorisch findet Lisa Enderli dort Berührungspunkte, wo sich Reduktion und minimalistischer Ansatz mit Subtilität und Sinnlichkeit verbinden und eine rationale und strukturierte Umsetzung finden.

Wer bei der Betrachtung der Messerschnitte an die aufgeschlitzten Leinwände von Luciano Fontana denkt, vergisst vielleicht, dass der italienische Avantgarde-Künstler die Leinwände mit seinen Schnitten bewusst verletzte. Lisa Enderli geht indessen mit chirurgischer Präzision vor und behandelt das Papier wie eine Dermatologin, welche die Oberhaut mit ihrem Skalpell sachte abhebt und dabei die Dermis und Subcutis, das heisst die Lederhaut oder Unterhaut, nicht im Geringsten verwundet. Das kann nur jemand, der den Faserverlauf des Papiers so spürt, als hätte er es mit den Mikrokapillaren eines lebenden Organismus zu tun.

Man könnte auch Paralellen zwischen Lisa Enderlis Oeuvre und der monochromen Malerei ziehen, bei der es um die Reduktion des Bildes auf eine einzige Farbfläche geht. Dem Amerikaner Ad Reinhardt ging es zum Beispiel darum, ich zitiere ihn, Gemälde zu schaffen, welche „kaum existieren… kaum sichtbar sind.“ Die „Nichtfarbe“ Schwarz erschien ihm am besten dazu geeignet zu sein, diesen Vorsatz umzusetzen: Das Gemälde sollte „rein, abstrakt, gegenstandslos, zeit- und raumlos, unveränderbar und beziehungslos sein, es sollte sich selbst genügen, nur Kunst sein.“ Lisa Enderli’s Position ist anders. Sie verzichtet meistens auf die Farbe. Es geht ihr um die „Nichtfarbe“ des Papiers. Auch ihre Arbeiten sind rein, abstrakt und gegenstandslos, aber nicht raumlos, nicht unveränderbar und nicht beziehungslos, und dennoch sind sie auch nichts anderes als Kunst, die sich selbst genügt.

In der Tradition der Abstraktion, des Minimalismus und der Monochromie stehend hat Lisa Enderli ein Werk realisiert, welches einerseits die Immanenz ihrer Bilder selbst auslotet, andererseits die Fragen nach der Relation von Wahrnehmung und Licht neu situiert. Im Verhältnis von Papierfläche als Raum und subtilsten Schattenverläufen in den Bildern ging und geht es nicht nur um die Empfindsamkeit des Sehens und Betrachtens, sondern immer wieder um die Fragestellung nach der Bezüglichkeit von Bild und Licht, von Bild als Licht und Schatten und vom Raum als Bildlicht und Bildschatten. Der Raum des Bildes wird dabei nicht als zentralperspektivisches, narratives Erlebnis begriffen, sondern als meditatives Licht- und Schattenspiel, durch das sich erst der Bildraum entfalten kann. Licht fungiert in ihren Werken als Operator im Sinne von Strahlung und Reflexion. So wie das Licht für Novalis ein „divinatorisches Wesen“ ist, bedeutet es für Lisa Enderli mehr als nur ein Sichtbarmachen, es ist die Fülle der Zukunft, der Phantasie und der Rationalität.

In einzelnen Werken erhöht die Künstlerin das Raumempfinden durch subtilste Farbinterventionen im Schatten ihrer Papierhäutungen. In diese zentrale Auseinandersetzung mit Schnitt, Licht und Schatten rückt der Aspekt der Zeit fast zwangsläufig in den Fokus.

Wir wissen, dass Papier im 2. Jahrhundert v. Chr. in China erfunden wurde und rund 1500 Jahre brauchte, bis es über die arabische Welt und Spanien auf verschlungenen Wegen nach Europa und letztlich über den Gotthard in die Innerschweiz gelangte. Lisa Enderlis Papierschnitte gehen den umgekehrten Weg. Er führt von Zürich über Altdorf direkt nach China, wo Enderli’s Werke in einer schweizerisch-chinesischen Gemeinschaftsausstellung im Art & Craft Museum in Shanghai gezeigt werden. Die Vernissage der Ausstellung „PaperArt“ erfolgt anlässlich der Eröffnung der neuen Geschäftsstelle von Pro Helvetia in Shanghai am 15. Oktober dieses Herbstes. Die chinesischen Museumsleute haben Lisa Enderlis Werk mit einem einzigen, vieldeutigen Satz qualifiziert: „Ihre Bilder verkörpern mit ihrem Licht- und Schattenspiel das Yin und Yang. Damit werden sie in den Rang einer universalen Gegebenheit erhoben, welche die gesamte Wirklichkeit konstituiert und charakterisiert.“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen spannenden Abend im Licht von Lisa Enderlis Arbeiten.